SRH Hochschule Heidelberg
Internationales

"Du musst unsere Stimme sein!" Studierende aus dem Iran berichten über die Situation in ihrer Heimat

Baran und Milad (Namen von der Redaktion geändert) kommen aus Teheran. Milad, 29, studiert Musiktherapie, die 40-jährige Baran Tanz- und Bewegungstherapie, beide sind seit einem guten Jahr hier. Dies ist ihre Geschichte.

Den ersten Termin sagen Baran und Milad kurzfristig ab. Zu sehr sind sie emotional betroffen, zu sehr verstrickt in Sorge und Angst. Im zweiten Anlauf schließlich treffe ich die beiden Studierenden aus Iran, um mit ihnen über die Situation in ihrer Heimat zu sprechen, um ihnen zuzuhören, um ihr Leben ein Stück weit zu begreifen. Milad wirkt sehr in sich gekehrt. Baran mit ihren bunten Haaren zeigt sich offener. Doch beiden merkt man an: Es ist ihnen ein Herzensanliegen, ihre Geschichte zu erzählen. Denn es ist für sie eine der wenigen Möglichkeiten, an der Seite ihrer Familien und ihrer Freund:innen im Iran zu stehen.

Es geht nicht um eine Annäherung an den Westen

Noch immer reißen die Proteste im Iran nicht ab, noch immer schlägt die Iranische Republik auf ihr Volk ein, weil es den obligatorischen Hijab nicht tragen und sich nicht an die Regeln der Regierung halten will. So wie Jina Masha Amini, die junge Kurdin, die, am 13. September zu Besuch in Teheran, den Hijab nicht richtig trug, verhaftet und so heftig geschlagen wurde, dass sie kurz darauf in Polizeigewahrsam starb. Sie war der Funken für das Pulverfass, seitdem gehen täglich Tausende Iranerinnen und Iraner auf die Straße. Es sind nicht nur das Kopftuch, die Scharia, Gesetze wie die Todesstrafe, ein paar mehr Freiheitsrechte, es geht auch nicht um eine Annäherung an die westliche Kultur – es geht um das gesamte System, gegen das die Menschen im Iran auf die Straßen gehen, sehenden Auges in die Gefahr laufend, verhaftet, verprügelt oder gar getötet zu werden.

Mehr als nur Proteste

„Die jetzige Situation ist ein Trigger für die vergangenen Jahre, es kommt alles wieder hoch.“ Baran ist mit dieser Angst aufgewachsen. 1979 (Ersetzung der Monarchie durch die Islamische Republik), 1999, 2009, 2019 – im Iran protestierten die Menschen schon häufig, doch noch nie in diesem Umfang, alle Schichten umfassend, auf viele Arten und Weisen, in allen Teilen des 80 Millionen-Landes. Damals ging es dem Volk um Reformen, nun geht es ihm um die Abschaffung des islamischen Staates, der mit unheimlichen Repressionen und Gewalt handelt. „Warum haben wir all die Jahre dieses Regime toleriert?“, fragt sich die Iranerin heute. Ihre Familie und sie selbst waren in den Jahren vor Ausbruch der Revolution im September müde des Krieges und der Revolution. Sie hofften auf eine Reform, aber es veränderte sich nichts. Nur zum Schlimmeren. Im September, die Proteste gingen gerade los, war Baran für einige Tage im Iran, dann schickte ihr Bruder sie zurück nach Deutschland, in die Sicherheit: „Du musst unsere Stimme sein, du musst darüber sprechen, was hier passiert“, sagte er zu ihr.

„Wir sind schockiert. Eine Konzentration auf andere Themen, auf das Studium, auf andere ist schwierig. Zeitweise ertrage ich auch keine anderen Menschen um mich herum“, sagt Baran und reibt sich die Augen. Ihre Eltern und ihr älterer Bruder sind weiterhin im Iran, und wenn das Internet funktioniert, nutzen sie jede Minute, um miteinander zu sprechen. Die Abschaltung des Internets schneidet die Beiden noch stärker ab von ihrem Land, auch dringen weniger Informationen zur Situation von dort zu uns durch. Ein zusätzliches Drama, das es nochmals wichtiger macht, über dieses Thema zu sprechen.

„Wenn ich in der Hochschule sitze, dann frage ich mich: Warum bin ich hier?“, erzählt Milad. Auch er hat die Eltern und den älteren Bruder in der iranischen Heimat und denkt fortwährend an sie, die fast täglich zum Protestieren nach draußen gehen. Beide fühlen sich schuldig, wenn sie an sich selbst denken, und doch ist es in dieser Situation zugleich so wichtig, stark zu bleiben, nebenher ein bisschen Geld zu verdienen, etwas für die Zukunft zu tun. Milad arbeitet unter anderem als Musiklehrer. „Gestern haben meine Wangen richtig geschmerzt“, sagt er. „Sie taten weh vom falschen Lächeln, das ich im Alltag aufsetze.“

Sie habe einen großen Teil ihres Lebens verloren, berichtet Baran: „Iran ist meine Heimat. Zu gehen war für mich wirklich hart, und ich möchte auch zurück.“ Milad arbeitet mit regime-kritischen Künstlern, er kann nicht zurück, ist von seiner Heimat verbannt. So führen beide, Baran und Milad, ein Leben in Zerrissenheit: Gedanklich sind sie immer im Iran, physisch aber sind sie hier. Die Zerrissenheit, die umgibt sie schon ihr Leben lang. „Wir leben zwei Leben, haben eine multiple Identität“, stellt Milad fest. Sein Vater war Journalist, darf jetzt nicht mehr in diesem Beruf arbeiten. Zuhause erklärte er seinem Sohn die Welt, in der Zeitung las er am folgenden Tag die verdrehte Wahrheit aus Regime-Perspektive.

Hilflosigkeit

Sanktionen helfen nichts, sie machen die Situation nur schlimmer, berichtet Baran. „Das Einkommen meiner Familie fiel dadurch um die Hälfte.“ Helfen würde es vielleicht ein bisschen, die iranischen Botschafter aus den Ländern zu werfen. Ansonsten bleibt es ihnen nur, über ihre Situation aufzuklären. „Auch, wenn andere Leute es nicht hören und nicht sehen wollen: Es ist uns wichtig, dass wir, unsere Wut, unsere Sorge, unser Schmerz gesehen werden.“ Baran ergänzt: „Eines habe ich in den letzten Wochen gelernt: zu sagen, ich brauche Hilfe, zu sagen, ich fühle mich schwach.“ Auch ihr therapeutisches Studium helfe ihnen wenig, ist maximal eine Ablenkung. „Ich möchte mich nicht hilflos fühlen“, beschreibt es Milad. „Deshalb mache ich Musik, um etwas zu tun.“ Angesprochen auf ihre bunten Haare verrät Baran, dass sie sie schon lange offen und gefärbt trägt, aktuell in Rot und Blau. „Die Farben sind noch etwas, was ich wählen kann.“

Gegen Ende unseres Gesprächs ruft Milads Bruder an, anscheinend gibt es gerade eine Internet-Verbindung, ganz schwach. Milad springt auf und verschwindet für ein paar Minuten. Danach, bei unserem kurzen Fotoshooting im Science Park, greift er nach Barans Hand. „Meinem Bruder geht es soweit gut“, berichtet er. „Er rüstet sich gerade für die nächste Protestaktion, die heute stattfindet.“

Milad und Baran aus dem Iran halten sich an den Händen. Die Gesichter sind nicht zu sehen, da sie anonym bleiben möchten.
Portraifoto Carsten Diener
Wir verurteilen das harte Vorgehen der iranischen Machthaber gegen das eigene Volk. Es ist für uns als Mitarbeitende und Studierende ein Gebot der Nächstenliebe, auf der Seite unserer iranischen Mitmenschen zu stehen.
Prof. Dr. Carsten Diener, Rektor der SRH Hochschule Heidelberg

Folgende Aktionen planen wir in den nächsten Wochen:

  • Teilnahmemöglichkeit an den Demonstrationen für ein Ende der islamischen Herrschaft im Iran
  • Diskussionsrunde (Ort und Zeit wird noch bekannt gegeben): „Die aktuelle Situation im Iran mit iranischen Studierenden“
  • 24.11. 11-14 Uhr: Aktion „Wir schmücken unseren Weihnachtsbaum – Wünsche für die Welt“, iranische Studierende unterstützen dabei, Kuchenverkauf der Fachschaften zu Gunsten des Center for Human Rights in Iran (CHRI)
  • Regelmäßige Berichte über die Situation im Iran auf unserem Blog

Weitere Tipps zum Helfen: https://magazin.wirhelfen.eu/de/so-kannst-du-die-frauen-im-iran-jetzt-bei-ihrem-kampf-unterstuetzen/

Social Media-Kanäle von Aktivist:innen für die Menschen im Iran:

Song über das "Warum" der Proteste

Shervin Hajippour greift in seinem Song Twitter-Nachrichten der Iraner:innen auf, die erklären, was ihnen der Protest bedeutet.

Zum Anhören

For the Sake of…

For the sake of dancing in the alleys
Because of the fear you feel while kissing
For my sister – your sister – our sisters
To change the minds that have rotted away
Because of shame, because of being broke
Because of longing for a normal life
For the garbage-picking kid and his dreams
Because of this command economy
Because of this polluted air
For Valiasr Street and its worn-out trees
For Pirouz and his probable extinction
For innocent, forbidden dogs
Because of tears that never stop
For the image of a return to this moment
For the sake of a laughing face
For schoolkids, for the future
Because of this mandatory paradise
For imprisoned intellectuals
For Afghan children
Because of all of these becauses, no two the same
Because of all these empty slogans
Because of collapsing homes built on the cheap
For a feeling of peace
For the sun after long nights
Because of meds for depression and insomnia
For men, homeland, prosperity
For the girl that wished she was a boy
For women, life, freedom
For freedom
For freedom
For freedom

براى...

برای توی کوچه رقصیدن
برای ترسیدن به وقت بوسیدن
برای خواهرم خواهرت خواهرامون
برای تغییر مغزها که پوسیدن
برای شرمندگی برای بی پولی
برای حسرت یک زندگی معمولی
برای کودک زباله گرد و آرزوهاش
برای این اقتصاد دستوری
برای این هوای آلوده
برای ولیعصر و درختای فرسوده
برای پیروز و احتمال انقراضش
برای سگ های بی گناه ممنوعه
برای گریه های بی وقفه
برای تصویر تکرار این لحظه
برای چهره ای که میخنده
برای دانش آموزان برای آینده
برای این بهشت اجباری
برای نخبه های زندانی
برای کودکان افغانی
برای این همه “برای” غیر تکراری
برای این همه شعارهای تو خالی
برای آوار خونه های پوشالی
برای احساس آرامش
برای خورشید پس از شبای طولانی
برای قرصای اعصاب و بی خوابی
برای مرد میهن آبادی
برای دختری که آرزو داشت پسر بود
برای زن زندگی آزادی
برای آزادی
برای آزادی
برای آزادی

Lyrics by Shervin Hajipour, translated by Zuzanna Olszewska