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Internationales

FACT-ForschungsDialog mit Prof. Dr. Dilek Zamantılı Nayır zum Thema Unternehmensgründung von Flüchtlingen

Am 05.12.2022 war Prof. Dr. Dilek Zamantılı Nayır von der Türkisch-Deutschen Universität Istanbul Referentin beim FACT ForschungsDialog.

In ihrem Impulsvortrag zum Thema „Refugee Entrepreneurship: Personal Life Stories of Bricoleurs" stellte Prof. Zamantılı Nayır zunächst heraus, dass viele Flüchtlinge auch aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen und in ihren Aufnahmeländern, die häufig Schwellen- oder Entwicklungsländern zuzurechnen sind, oftmals zur Gründung von Unternehmen gezwungen sind, ohne dafür auf besondere finanzielle oder technologische Ressourcen zurückgreifen zu können. Diese Besonderheiten von Unternehmensgründungen durch Flüchtlinge haben bislang in der traditionellen Entrepreneurship-Forschung kaum Niederschlag gefunden, denn diese beschäftigt sich primär mit High-Tech-Gründungen in Industrieländern.

Der Struktur-Anthropologist Claude Levi-Strauss hat bereits 1966 für diese Form von Existenzgründungen den Begriff Bricolage geprägt: Bricolage ist hiernach “Making do by applying combinations of the resources at hand to new challenges”. Gründerinnen und Gründer nutzen dabei Strukturelemente anderer Kulturen und kombinieren sie für ihre eigenen Zwecke neu. Es handelt sich also um „Tausendsassa“, die sich mit vorhandenen Werkzeugen, Fähigkeiten und Materialien begnügen und sich dabei von „Ingenieuren“ unterscheiden, die für jede Aufgabe genau die richtigen Inputs einholen und einsetzen.

Bricolage zeichnet sich durch drei miteinander verbundene Merkmale aus: 1. Nutzung vorhandener Ressourcen, anstatt neue Ressourcen zu suchen, wenn neue Probleme auftreten. 2. Rekombination von Ressourcen für neue Zwecke, die potenziell innovative Lösungen für Probleme bieten könnten, die bisher nicht angemessen angegangen wurden und 3. Sich behelfen, also Aktionen mit zugänglichen Ressourcen durchzuführen, anstatt über Möglichkeiten nachzudenken, ohne Maßnahmen zu ergreifen.

Prof. Dr. Zamantılı Nayır präsentierte anschließend die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, bei der mithilfe semistrukturierter Interviews zwanzig geflüchtete Unternehmer im Gastronomie-Bereich in den Städten Istanbul, Bursa und Ankara befragt wurden. Es zeigten sich dabei ähnliche Grundmuster: Vielfach bilden vergessene, weggeworfene, abgenutzte oder Einweg-Materialien mit neuem Gebrauchswert die Grundlage der Unternehmen. Und oftmals dienen besondere Orte als Restaurants: Leerstehende Gebäude, weil die ehemaligen Mieter nicht in der Lage waren, die Miete zu bezahlen, oder weil das Gebäude wegen Erdbeben- oder Einsturzgefahr geräumt worden war. Dieses erste Gebäude wird dann als Stützpunkt genutzt, um andere Flüchtlinge zu beschäftigen.  

Gegenstand der Unternehmen ist das Anbieten von syrischen Speisen, wobei mit dem ausgekommen wird, was „zur Hand“ ist – Zutaten von Syrern, die ihre eigenen kleinen Fabriken in der Türkei gegründet hatten, oder von Syrern, die in türkischen (Lebensmittel-)Fabriken arbeiten. Auf dieser Grundlage entstehen Speisen, die ihrem eigenen Geschmack entsprechen und an syrische Vorlieben appellieren. Gleichzeitig sind die Flüchtlinge aber bereit, alles zu akzeptieren, was sie unter den gegenwärtigen Umständen finden können. Im Einklang mit Baker et al. (2003) steht dabei die Lockerung der Regeln, welche Ressourcen verwendet werden können, um innovative Lösungen zu schaffen, im Vordergrund – also die Rekombination und Neuformulierung physischer Ressourcen.

Auch im Hinblick auf die Arbeitsressourcen zeigen sich Besonderheiten: In hohem Umfang wird auf  Familienmitglieder, Verwandte und Nachbarn als Arbeitskräfte zurückgegriffen. Viele syrische Männer wollen dabei ihre Ehefrauen um sich haben, anstatt sie zum Beispiel als Reinigungskräfte außerhalb beschäftigt zu wissen. Eingesetzt werden die Frauen dann nicht allein als Arbeitskraft, sondern speziell in der Qualitätskontrolle und bei der Produktentwicklung. Auch werden regelmäßig Familienangehörige für tägliche Geschmackstests und Feedbacks eingeladen.

Insgesamt tragen die Ergebnisse dazu bei, einige der Urteile über die wirtschaftlichen Folgen von Migration und Flüchtlingen zu relativieren. Sie zeigen, wie Flüchtlinge zu innovativen Entrepreneuren werden. „Einige Flüchtlinge werden als Unternehmer gefeiert, wie David Tran, ein Flüchtling aus Vietnam und Gründer des Sriracha-Saucen-Herstellers Huy Fong. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass Flüchtlinge auch eine weniger offensichtliche, aber gleichwohl wichtige Rolle als innovative Mitarbeiter spielen,“ so Prof. Dr.  Zamantılı Nayır in ihrem abschließenden Statement.

In ihrem Schlusswort betonte Prof. Dr. Claudia Ossola-Haring die allgemeine Bedeutung von Entrepreneuren für eine Gesellschaft. Flüchtlinge in Deutschland als „Wirtschaftssubjekte“ sind bereits seit einigen Jahren ein großes Thema. Dabei geht es einmal um deutsche Unternehmen, für die Flüchtlinge Zielgruppe sind: Vermieter von Immobilien, Wohncontainer-Hersteller, Essenslieferanten, Übersetzer – die Liste der Beispiele lässt sich verlängern. Aber für viele Flüchtlinge und auch Einwanderer sind ihre ehemaligen Landsleute und auch Deutsche Zielgruppe: Handwerker, Bau, Friseure, Gastronomie, Sportanbieter, Internet-Dienste, Pflege – auch hier lässt sich die Liste der Beispiele verlängern. Denn immer mehr Flüchtlinge und Einwanderer gründen in Deutschland Unternehmen. Das Bundeswirtschaftsministerium, die KfW und die Handelskammern beobachten, dass viele Flüchtlinge motiviert sind, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Rund jeder fünfte Gründer in Deutschland hat nach Angaben der nationalen Förderbank KfW keinen deutschen Pass oder hatte zumindest noch keinen, als er geboren wurde. Zugewanderte Gründer leisten einen besonderen Beitrag zur Integration, denn sie stellen ihrerseits häufig auch wieder Menschen mit Migrationshintergrund ein. Grundsätzlich bliebe noch viel zu tun, um Entrepreneuren, gleichgültig welcher Herkunft, den Start in das unternehmerische Leben zu erleichtern.

Der Abend mündete in einer intensiven Diskussion unter den Teilnehmenden.

Portraitfoto Stephan Schöning
Prof. Dr. habil. Stephan Schöning

Fakultät Wirtschaft | Professor für ABWL und Finanzen | Länderbeauftragter Litauen